, Simon Bamberger

Wenn aus Nichts alles wird - Der kometenhafte Aufstieg der Faszien und deren Bedeutung

In unseren Tagen erfasst die Google-Suche die Wichtigkeit einer Sache oder einer Person. Google speichert alle Suchanfragen und ermöglicht damit erstaunliche Analysen. Wer hätte gedacht, dass es einen Suchbegriff gibt, der sich noch schneller aus dem Nichts katapultiert hat als das iPhone oder Netflix und dass es sich dabei ausgerechnet um einen anatomischen Begriff handelt? Das "gelang" den Faszien.

In unseren Tagen erfasst die Google-Suche die Wichtigkeit einer Sache oder einer Person. Google speichert alle Suchanfragen und ermöglicht damit erstaunliche Analysen. Wer hätte gedacht, dass es einen Suchbegriff gibt, der sich noch schneller aus dem Nichts katapultiert hat als das iPhone oder Netflix und dass es sich dabei ausgerechnet um einen anatomischen Begriff handelt? Das "gelang" den Faszien.  Faszien sind nichts "Neues", da sie schon immer Teil des menschlichen Körpers, ja beinahe jeder organischen Struktur, sind. Die Aufmerksamkeit und Wertschätzung für sie hat sich aber schlagartig erhöht und einen wahren Hype ausgelöst.

Maßgeblich daran beteiligt war und ist der Ulmer Forscher Dr. Robert Schleip, der 2007 an der Harvard Medical School Forscher aus aller Welt vereinte, um der Frage nachzugehen, ob Faszien ein "aktives Sinnesorgan" seien. Sogar das weltberühmte "Science" Magazin berichtete damals mehrseitig über den Perspektivenwechsel, der vorerst noch im wissenschaftlichen Betrieb bemüht war, sich Geltung zu verschaffen. Wenig später allerdings wurde das Stichwort Faszien auch in klinische Wörterbücher aufgenommen - auf der Ebene einer geradezu revolutionären Relevanz. Und heute sind Faszien in den Bereichen Sport, Wellness und Gesundheit auch Laien ein Begriff. Dabei wird schnell übers Ziel hinausgeschossen, Faszientraining soll auf einmal gegen und für alles da sein. Wenn etwas für so viel verantwortlich sein soll, ist Skepsis angebracht und es besteht die Gefahr, dass immer weniger erklärt werden kann, wenn nicht sauber gearbeitet wird. Und dann wird aus allem schnell: nichts. Dabei waren Faszien lange Zeit genau das: nichts.

Jeder kennt vermutlich die weißen faserigen Elemente im Fleisch, die wir in der Küche oft achtlos wegwerfen. Das ist ein Faszienabschnitt, der das Muskelfleisch umhüllt und dem Gewebe seine Struktur gibt. Genauso achtlos ging lange Zeit die Wissenschaft mit den Faszien um. Faszien hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes "nicht auf dem Schirm", weil – bis vor kurzem - kein bildgebendes Verfahren dafür zur Verfügung stand.

Sie waren unsichtbar, wertloses Füllmaterial. Dieses theoretische (Un-)Wissen wirkte sich auch auf die Praxis aus: ohne Kenntnis der körperweiten Verbindungen des Fasziennetzes wurden OP-Schnitte gesetzt und Reha-Maßnahmen durchgeführt. Anschließend wunderte man sich über fehlende nachhaltige Verbesserung oder unerwartete Nebeneffekte.

Faszien trennen und verbinden, verhalten sich aktiv und passiv, sind schulmedizinisch und naturheilkundlich akzeptiert. Was ist das? Körpergewordene Dialektik? Biologische Ironie? Es ist vor allem eine Chance.

Eine Chance für die Wissenschaft, für die Wirtschaft und für die Gesundheit jedes Einzelnen.

Robert Schleip beschrieb die Faszien einmal als "missing link", also: "fehlende Verbindung". Diese Verbindung hilft Prozesse beim Körpertraining besser zu verstehen, da Muskeln, Kreislauf und Koordination nun nicht mehr isoliert betrachtet werden. Faszien verbinden aber noch viel mehr: sie ermöglichen den wissenschaftlichen Zugriff auf Jahrtausende alte naturheilkundliche Traditionen. Sie eröffnen Produkten und Dienstleistungen einen Markt, zum Beispiel Flossbändern, Saugglocken, Hartschaumrollen oder Tapes. Auch Ausbildungs- und Forschungsinstitute sowie Trainer und Fitnessstudios profitieren von ihnen. Und die Faszien fordern eine ganzheitliche Sichtweise, die in unseren "Gibt’s-dafür-auch-ne-App?-Zeiten" nicht nur höchst willkommen, sondern auch gesundheitsförderlich ist.

Wir fassen zusammen: Faszien geben Struktur, sind ein aktives (und passives) Sinnesorgan und durchziehen den gesamten Körper, ja verbinden gar alles mit allem. Konsequenterweise müsste man von einer einzigen Faszie sprechen, die unseren Körper in Form hält, die Lage wahrnimmt und autonom stabilisiert.

Aber Faszien sind noch mehr als ein stützendes und kommunizierendes Netzwerk. Faszien dienen als Aufhängung der inneren Organe. Sie verbinden knöcherne mit muskulären Strukturen, sind also identisch mit dem, was klassischerweise als Sehne bezeichnet wird. Faszien umhüllen die Muskulatur, wodurch man schon vereinzelt vom Faszienkater spricht, wenn das Training übertrieben wurde.

Faszien haben aber auch eine emotionale und psychische Relevanz. Es ist nicht ausschließlich unser Großhirn, das seit jeher zwischen Höhlenromantik und Säbelzahntiger umschaltet – es sind auch unsere Faszien, die sich in Vorspannung bringen, sich bereit machen zur Flucht oder Verteidigung. Übertragen auf die "Bedrohungen" unserer Tage, also u.a. unsichere Arbeitsplätze, hoher Leistungsdruck und andauernde Zeitnot, wird aus "Faszien-Perspektive" erkennbar, dass hier körperliches Leid ganz grundlegend mit psychischem und seelischem Geschehen zusammenhängt. "Anspannung", "fehlende Haltung" und "Druck" sind nicht nur geistige Phänomene, sondern konkrete körperliche Erscheinungen.  

Physiotherapeuten, Heilpraktiker, Masseure, Trainer und viele mehr, die sich in die neue Perspektive eingearbeitet und sich auf sie eingelassen haben, begegnen diesen Erscheinungen auf ganzheitlichem Wege: Achtsamkeitsübungen stehen gleichberechtigt neben Ernährungstipps, Dehnung und Bewegung wird kombiniert mit Meditation.

Die Google-Suchmaschine zeigt, dass ein Hilfsmittel häufig gemeinsam mit "Faszien" gesucht wird: die Rolle. Der schwäbische Unternehmer Jürgen Dürr entwickelte vor ca. 10 Jahren eine Hartschaumrolle für den Einsatz im Sport. Mittlerweile rollt quasi jedermann über Rollen und Bälle in allen Größen und Härten. Ziele der Übung sind ein Auspressen der sogenannten "Grundsubstanz", in der Hoffnung, dass dann frisches Gewebewasser mit neuen Nährstoffen nachfließt. Diese Tatsache ist genauso umstritten wie der "fascial release", dem Lösen von Verklebungen unter dem Druck der Rolle. Erwiesen scheint jedoch das Absenken der Grundspannung (Tonus) - wenn langsam gerollt wird; und auch der tonisierende Effekt bei schnellem Rollen, den sich Sportler vor der Belastung zunutze machen.

Die Schwaben scheinen ein besonderes Verhältnis zu den Faszien zu haben. Im bayerisch-schwäbischen Gundelfingen nutzte man die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und modifizierte die uralte und beinahe auf dem gesamten Globus angewandte Methode des Schröpfens, einer Behandlung mit Unterdruck. Der Unterdruck hebt die Faszienschichten an und fördert deren Verschieblichkeit. Während klassische Massagen oder Hartschaumrollen Druck ausüben, nutzt man hier das umgekehrte Prinzip: der Unterdruck sorgt für Aufspannung statt Verdichtung des Gewebes. Die Gundelfinger Saugglocken (BellaBambi®) bestehen aus Silikon und haben einen innovativen Peeling-Rand. Dieser hat neben dem gewünschten "Shearing"-Effekt auch eine peelende Wirkung. Das erhöht die Aufnahme- und Abgabefähigkeit der Haut, verbessert also den Stoffaustausch und unterstützt so die Funktion der Faszien.

Faszien sind ein unglaublich vielfältiger Gewebetyp, der noch lange erforscht werden wird. Die Effekte aus der praktischen Arbeit von Trainern und Therapeuten sind aber auch heute schon beachtlich. Wer diese neue Perspektive zulässt und ernst nimmt, erkennt hochkomplexe Zusammenhänge, in denen Entscheidung A nicht zwangsläufig zu Ergebnis B führen muss. Vielmehr zwingen uns die Faszien zu einer ganzheitlichen Herangehensweise und fordern ein Bündel an individuellen Maßnahmen, Umstellungen und Anreizen. Interessanterweise bezeichnet der lateinische Wortursprung "fascis" genau das: Bündel.